Bayern-Mysterien, die gar keine sind
Von Heinz Gläser, MZ
Eine Krankenakte wird zum Wälzer – und alle Welt fragt sich, warum Holger Badstuber das Pech an den Füßen klebt wie anderen Baumharz an den Fingerkuppen. Am Samstagabend, als der FC Bayern mit dem 1:0 gegen Hertha den letzten Schritt zur dritten deutschen Meisterschaft in Serie machte, stand der Innenverteidiger ebenso wenig auf dem Platz wie in den Spielzeiten 2012/13 und 2013/14. Sollten die Münchner an diesem Dienstag (20.30 Uhr/ARD live) im Halbfinale gegen Borussia Dortmund den Einzug ins Endspiel um den DFB-Pokal schaffen, wäre Holger Badstuber am 30. Mai im Berliner Olpympiastadion abermals lediglich Zaungast – wie 2013 und 2014.
Karriere der verpassten Chancen
Zählt man den Champions-League-Triumph des Fußball-Rekordmeisters 2013 im Londoner Wembley-Stadion und den Weltmeistertitel 2014 in Brasilien hinzu, summiert sich das verletzungsbedingte Ungemach für den gebürtigen Memminger gewaltig. Badstubers Karriere ist eine der verpassten Chancen, wäre da nicht der Double-Gewinn in der Saison 2009/2010 unter seinem Förderer Louis van Gaal gewesen. Mit Blick auf all das, was möglich gewesen wäre, nicht viel mehr als ein Trostpflaster.
Ein Muskelriss im linken Oberschenkel verdammt den 26-Jährigen aktuell zu einer Zwangspause von voraussichtlich vier Monaten. Brisanz gewinnt die neuerliche gravierende Blessur durch den Knall-auf-Fall-Rücktritt des Mannschaftsarztes Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt in der Woche zuvor im Anschluss ans 1:3 verlorene Viertelfinal-Hinspiel in der Königsklasse beim FC Porto.
Seither wird munter spekuliert, seither steht die Frage im Raum: Läuft in der medizinischen Abteilung der auf ihre Professionalität in allen Bereichen so stolzen Münchner womöglich grundsätzlich etwas schief? Ein Blick in die Krankenstation, in der sich über Monate die Stars Thiago, Arjen Robben, Franck Ribéry, David Alaba, Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm und Javi Martinez die Klinke in die Hand gaben, legt diesen Verdacht zumindest nahe – auch wenn die Fälle oft unterschiedlich gelagert waren.
Nach allem, was man aus dem Umfeld des Vereins hört, hatte sich im Bayern-Vorstand ein diffuses Unbehagen an der Arbeit der Vereins-Ikone Müller-Wohlfahrt breitgemacht. Die Skepsis zielt jedoch nicht direkt auf den überaus verdienten „Doc“ selbst ab, im Gegenteil: „Mulls“ Fähigkeiten sind und bleiben unbestritten, die Bayern-Profis dürfen weiterhin in die Praxis des anerkannten Heilsbringers in der Münchner Innenstadt pilgern. Das ist beim FC Bayern nicht anders als in Jogi Löws Nationalmannschaft.
Sehr wohl in Frage steht aber offensichtlich die Nibelungentreue, mache sprechen von ausgeprägter Gutmütigkeit, mit der Müller-Wohlfahrt zu seinen Mitarbeitern in der medizinischen Abteilung steht. Zuvorderst Vorstands-Chef Karl-Heinz Rummenigge soll dem Vernehmen nach seit langem für frischen Wind und neue Ideen in diesem Bereich plädiert haben – auch in personeller Hinsicht. Da sich der 72 Jahre alte „Mull“ diesem Ansinnen standhaft widersetzt habe, sei die Situation nach dem Negativerlebnis in Porto eskaliert. Müller-Wohlfahrt warf erbost die Brocken hin – und damit die Chance weg, am Saisonende mit einem Blumenstrauß und warmen Worten in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet zu werden.
Für diese Lesart des Geschehnisse spricht auch eine Aussage Rummenigges im „Aktuellen Sportstudio“ des ZDF. Gefragt, ob ein Comeback Müller-Wohlfarts bei den Bayern denkbar wäre, äußerte sich der 59-Jährige vage: Darüber werden zu gegebener Zeit entschieden, nämlich dann, wenn das „neue Konzept“ für die medizinische Abteilung auf dem Tisch liege.
Treibende Kraft ist nicht Guardiola
Vom Tisch dürften damit alle Mutmaßungen sein, die Causa Müller-Wohlfahrt lasse sich auf einen Konflikt zweier Alpha-Tiere reduzieren. Gewiss, Starcoach Pep Guardiola hätte „Mull“ lieber öfter auf dem Vereinsgelände an der Säbener Straße gesehen. Aber die treibende Kraft hinter der Trennung war der Spanier wohl nicht, auch wenn die beiden keine innige Sympathie verbindet.
Badstuber ist derweil zur Operation zu Richard Steadman, dem Arzt seines Vertrauens in Vail/US-Bundessstaat Colorado, gereist. „Rätselhaft“ nennen einige Medien seine Verletzung, zumal er nach dem Rückspiel gegen Porto die Münchner Arena scheinbar beschwerdefrei verlassen hatte. Waren beim 26 Jahre alten Nationalspieler schmerzstillende Spritzen im Spiel?
Badstubers lange Leidensgeschichte lässt die jüngste Blessur freilich weniger mysteriös erscheinen. Zwei Kreuzbandrisse im rechten Knie hat der Allgäuer erlitten, den ersten am 1. Dezember 2012 im Bundesliga-Spiel gegen Borussia Dortund, den zweiten am 17. Mai 2013 im Aufbautraining. Zum Saisonbeginn 2014/15 meldete er sich wieder fit, fiel jedoch nach einem Muskelsehnenriss im linken Oberschenkel am 13. September erneut für den Rest des Jahres aus.
Experten wie Werner Krutsch erkennen darin ein ihnen geläufiges Muster. Die Muskelmasse am Bein schwindet durch die Ruhigstellung drastisch, bislang automatiserte Bewegungsabläufe muss sich der Profi mühsam wieder erarbeiten. „Bei Spielern, die nach Kreuzbandrissen zurückkommen, besteht offensichtlich ein erhöhtes Risiko von Muskelverletzungen. Sie fühlen sich zwar wieder fit, aber die Statik des Körpers hat unter der langen Pause gelitten“, sagt der ärztliche Koordinator des „Fifa Medical Centres of Excellence“ am Universitätsklinikum Regensburg. Krutsch und seine Kollegen gehen derzeit in der weltweit größten Studie den Ursachen und Folgen der gefrüchteten Kreuzbandrisse wissenschaftlich auf den Grund.
Fehlstellung der Hüfte?
Badstuber hatte zuletzt in der Tat über Beschwerden wegen einer Fehlstellung der Hüfte geklagt. Und auch Parallelen zum Fall Sami Khedira sind nicht von der Hand zu weisen. Auf den letzten Drücker hatte es der spätere Weltmeister nach einem Kreuzbandriss zur WM 2014 geschafft, hat aber seither mit diversen Muskelverletzungen zu kämpfen.
In Steadmans Klinik hatte sich Holger Badstuber bereits dem Eingriff nach seinem zweiten Kreuzbandriss unterzogen. Der US-Spezialist hatte seinerzeit sogar erwogen, dem Bayern-Star das Band eines Toten als Ersatz zu implantieren, was dieser aus ethischen Gründen ablehnte.
Pikant: Steadman, der seit Jahrzehnten als Koryphäe der Kniechirurgie gilt, war Anfang des Jahrtausends bei einigen Bundesligisten vorübergehend in Ungnade gefallen, weil bei Leverkusens Nationalspieler Jens Nowotny wenige Monate nach der OP erneut das Kreuzband riss.
Den ersten Eingriff bei Badstuber hatte der Orthopäde Ulrich Boenisch vorgenommen. Auch er sah sich anschließend mit Fragen konfrontiert. Der Augsburger genießt ebenfalls einen hervorragenden Ruf. In einem „Zeit“-Interview klagte Boenisch einmal: „Wenn ich hundert Fälle erfolgreich behandle und einer kommt nicht mehr zurück, dann ist genau dieser Fall in den Schlagzeilen.“