Die Suche nach dem Anderen

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Freitag, 13. März 2015 3

Die Suche nach dem Anderen

In der Ferne rückt die Heimat näher, heißt es. Die Regensburgerin Nina Dietrich und Christian Basl reisen nach Vietnam und Indonesien, auf die andere Seite der Weltkugel, um dort das Andere zu suchen: Das andere Weihnachten, das andere Neujahr, die anderen Menschen – das fremde Andere, das wir mit Klischees zu fassen versuchen. Doch was bleibt von den eigenen Vorurteilen, wenn man in der Fremde selbst zum Anderen wird?

    Auf Wiedersehrn, wundervolles, magisches und verrücktes Indonesien! @JakartaAirport. Der letzte Teil des Bali-Versuchs und Weiteres folgen noch!

    Selbst zum selbersuchen (Tag 1)

    Ubud ist das spirituelle Zentrum Balis. Nach dem Erfolg des Buches “Eat, Pray, Love” reisen viele Europäer dorthin, um ihr Selbst zu suchen. Das wollen wir auch: Der Bali-Selbstversuch, Teil 1.

    Ich bin Nichtleser, was das Buch anbelangt. Weniger, weil ich unvoreingenommen – überzeugte Leser würden sagen: unvorbereitet – sein wollte. Ich habe mich schlicht geweigert, das Buch zu lesen. EatPrayLove (in Kennerkreisen: EPL) ist einfach Mädchenkram. Die Geschichte kenne ich aus Wikipedia-Zusammenfassungen: Frau hat Lebenskrise, reist nach Italien (Essen), Indien (Beten) und Bali (Liebe), findet schließlich zu sich selbst, Lebenskrise überwunden. Soweit nette Geschichte. Klingt nach Groschenroman für die verbitterte Hausfrau. Ich lese lieber Game ofThrones.

    Erstaunlich allerdings ist die Resonanz, die der Autobiographie folgte: Der Selbstfindungstrip nach Bali scheint zu einem säkularen Jakobsweg geworden zu sein. Elizabeth Gilbert ist die unfreiwillige Prophetin neuerer Heilsversprechen – EPL als Evangelium der Gegenwart. Der indonesischer-Heiler-Besuch gehört für viele ebenso zur Bali-Reise wie der fünf-Liter-Sangria-Eimer zum Ballermann (“Hölle! Hölle! Hölle! Hölle!”).

    Entsprechend groß ist das Angebot spiritueller Selbsterfahrung, das aus dem einst beschaulichen Dorf Ubud in Zentralbali – Schauplatz von EPL – ein Mekka des Selbstfindungstrips gemacht hat: Yoga-Shop reiht sich an Ayurveda-Geschäft, daneben ein großes, bunt-blinkendes Schild, das auf die original-ursprünglich-traditionelle balinesisch-indisch-chinesische Heilkunst eines Gurus hinweist. Dass sein Name europäisch klingt, ist nicht wesentlich, ebensowenig, dass ein indonesischer Heiler eigentlich kein Trara um sein Können macht, sondern durch Mundpropaganda bekannt wird. Aber: Wie sollen die Selbstsuch-Touris in dem Rohkost-Lokal um die Ecke denn sonst zu ihren versprochenen Problemen samt Lösung finden? Wenn doch Yesterday HistoryTommorrow Mystery und Today a Gift ist – wie ein Stoffschild in einem Souvenierladen predigt -, warum dann nicht die Gunst des Augenblicks nutzen und diesem kleinen Wink des Zaunpfahls folgen, auf dass das mysteriöse Morgen die Lösung mysteriöser Probleme bereithält?

    Manchmal habe ich das Bedürfnis, den Bezug eines Kissens aufzuknöpfen, meinen Kopf tief dort hineinzustecken und laut schreiend und stampfend umherzulaufen. Mangels Kissen sehe ich mich gezwungen, ins Hotelzimmer zurückzukehren. Was finden so viele Eurpäer und Australier in diesen Angeboten, dass sie sich dem kissenlos und bereitwillig hingeben? Ich will diesen prophezeiten Rausch spiritueller Selbsterfahrung auch erleben und verstehen, ja, mich selbst finden, wenn mein Selbst möglicherweise nicht das ist, was dort auf dem Hotelbett liegt und in das Kissen schreit.

    Zeit, zu Handeln. Zwei Minuten später habe ich zwanzig Fenster meines Internetbrowsers geöffnet. Eine Webseite lässt mich nicht los: Die der australischen Heilerin Jelila (ich glaube, man muss den Namen mit stark näselnder Stimme und lang gezogener letzter Silbe aussprechen), die ihre Praxis in Ubud hat. Sie legt jedem Selbstsuch-Touri Kristalle auf den Körper und spielt Probleme mit der Gitarre weg. Überzeugendes Klangbeispiel: “Dolphin’s Journey“. Für 800 Dollar am Tag. Weil ich auf dem Kissen hocke, schreie ich jetzt den Bildschirm an.

    Der Weg zur Selbstfindung ist teuer. Für uns wäre mit einem Besuch bei Jelila die Reise vorzeitig beendet. Selbstversuch Selbstsuche gescheitert – keine Option. Wir melden uns für fünf verschiedene billigere Kurse in einem Yogazentrum an: Tai Chi, Acro-Yoga, Alchemic Breath (weil’s cool und spacy klingt), Yin-Yoga und Kirtam. Während ich mich schon gespannt auf mein Selbst freue, wird meine Stimme allmählich heiser.

     

    Weiter geht’s in Teil zwei von “Selbst zum selbersuchen” bald hier, im Stream.

    Der Vulkan Sibayak bei Berastagi: Er ist noch zugänglich. Doch seit dem Ausbruch des Sinabung 2013 beginnt es auch dort zu brodeln, sagt Wawan, Tourguide.

    Die letzten beiden Tage haben wir in der Vulkanregion Berastagi, im nördlichen Sumatra, verbracht. Auf dem Foto: Der Krater des Vulkans Sibayak, der seit dem Ausbruch des nahegelegenen Sinabung 2013 auch wieder Aktivitäten zeigt. Mehr über den Einfluss der Vulkane auf den Alltag der Menschen in Berastagi bald hier im Stream. Für uns geht es heute weiter nach Bukit Lawang, im Dschungel.

    Gestorben wird lange

    Die Ahnenverehrung ist in Vietnam allgegenwärtig. Verstorbene prägen den Alltag der Familien noch fünf Generationen nach deren Tod.

    Rhythmisches Trommeln dröhnt aus einem Haus in einem Dorf im Mekong-Delta. Pochende Gongschläge und weinende Klänge der Dan Co, einem vietnamesischen Saiteninstrument, vereinen sich mit dem Klirren von Schüsseln und Tassen. Während wir mit dem Motorroller an dem Haus vorbeifahren, drängen sich viele Vietnamesen auf der Veranda. Sie tragen weiße Stirnbänder, einige sind ganz in Weiß gekleidet. Schwaden blau-weißen Rauchs wehen durch die Fenster. In diesem Haus ist jemand gestorben.

    Wenn hier getrauert wird, geschieht das nicht im schnellen Takt bayerisch-katholischer Kurzweiligkeit: Sterben, Aussegnen, Beerdigen, um unter endlosen Beileidsbekundungen zu Bratwürsten mit Sauerkraut zu marschieren. Trauer in Vietnam ist laut, aufwendig und dauert lange.

    Auf einem Internetforum erzählt Giam Doc von den Trauerfeierlichkeiten für eine gute Freundin von ihm: "Unter dem Klöppeln, Klingeln und Beten eines Mönches haben wir sie eingesargt und hübsch aufbereitet, für mich war das der Moment des Abschiedes, obwohl der Leichnam noch ein paar Tage im Haus lag. (...) Nach ein paar Tagen mit Hunderten von Verwandten, Essen, Trinken, Beten, Trommeln, Klimpern, Singen und wieder von vorn, ging dann der Zug zur Beerdigung. Dazu wurde ein Spezialfahrzeug gemietet mit einen roten Haus drauf, verziert mit goldenen Drachen, Schnitzereien und was weiß ich noch, zudem ein LKW um all ihre persönlichen Sachen zum Verbrennen aufzunehmen und auch die acht Trommler, und Falschgeldwerfer, die Unmengen an Papier und Blattgold in der Gegend herumwarfen.

    Der Tote in dem Dorf im Mekong-Delta war Teil der Familie. Und er wird es weiter sein, er wird weiterhin den Alltag der Familie prägen: Mit ihnen essen, bei schwierigen Entscheidungen zuhören und das Tet-Fest mitfeiern. Denn der Tod ist für viele Vietnamesen kein Abschied des Menschen aus der Familie. Das soziale Sterben in Vietnam dauert lange: Fünf Generationen. So lange sendet die Familie dem Verstorbenen Essen, Reisschnaps, das neueste iPhone (aus Papier) und (Papier-)Geld ins Jenseits. Und sie holt sich Rat, berichtet dem Toten von den neuesten Familienereignissen. Der Sendekanal: Rauch der Räucherstäbchen. 

    Während wir durch die Dörfer um die Provinz Ben Tre im nordöstlichen Mekong-Delta fahren ist der süßliche Geruch der roten Stäbchen unser Begleiter. In fast jeder Suppenküche, Rollerwerkstatt, jedem Cafe, Hotel oder Straßenverkauf stecken irgendwo ein paar dieser Sender ins Jenseits. Meist in Schälchen mit Sand, auf kleinen Hausaltären aus dunklem Holz, die mit kitschbunten Blinke-Lichterketten verziert sind. 

    Der Ahnenkult ist in Vietnam allgegenwärtig - und vor allem: konfessionsübergreifend. Es kommt nicht selten vor, dass auch Taoisten in buddhistischen Pagoden Räucherstäbchen für die Vorfahren anzünden. Der vietnamesische Pragmatismus umfasst auch Religionen. 

    Und das auch noch auf einer anderen Ebene: Denn wenn das Räucherstäbchen abgebrannt ist, ist der Sendevorgang beendet - die Gaben dürfen dann von der Familie verbraucht werden. Es heißt, bei Süßigkeiten seien die Räucherstäbchen von vornherein kürzer. 

    Bis die Seele des Toten im Mekong-Delta jedoch in den Hausaltar einzieht - meist in Form eines Portraitfotos - werden noch drei Jahre vergehen: Dann wird sich die Familie erneut versammeln und nachts zum Grab pilgern. Der älteste Sohn wird dann einen Blick in das Grab werfen. Schauen, ob der Verwesungsprozess beendet ist. Dann wird er die Gebeine aus dem Grab nehmen, in heißem Wasser abkochen und in einem kleinen, tempelartigen Grab beisetzen. 

    Wir verlassen die Dörfer, weiter in das Mekong-Delta in Richtung Meer. Der Geruch der Räucherstäbchen wird schwächer. Neben satt-grünen Reisfeldern am Wegesrand wachsen Palmen und Sträucher. Die grauen harten, tempelartigen Gebilde säumen die Felder meilenweit. Die Musik der Städte dringt nicht hierher. Hier herrscht Ruhe.

    Ahnenverehrung in Vietnam. Siehe auch reiseblog.christianbasl.de

    Seidenfabrik bei Dalat: Die andere Seite des Wirtschaftsaufschwungs.

    Wir wünschen einen guten Rutsch in das neue Jahr aus den Straßen von Saigon! Viele Vietnamesen feiern erst in zwei Monaten - dann ist Chinesisches Neujahr, das sich nach dem Mondkalender richtet. Für uns gibt es aber schon heute Reisschnaps. Cheers!

    Easyrider und Kriegsveteran Hien vor den Pfeilern einer zerbombten Brücke bei Dalat.

    22. Dezember: Vom verregnetem Hue sind wir 140 Kilometer nach Süden gefahren und befinden uns in Hoi An. Das kleine Städtchen hat den Flair von Venedig und den Charme eines großen vietnamesischen Marktes. In der Altstadt befinden sich zahllose Schneidereien, in denen sich Besucher für kleines Geld Kleidung maßschneidern lassen können. Auf dem Bild: Die verlassene Altstadt bei Nacht. Die Läden haben längst geschlossen, doch an den Schneidertischen wird bis zum Morgen gearbeitet - oft müssen die Bestellungen der Besucher sehr kurzfristig bearbeitet werden.

    "I helped you, you buy from me!"


    Der Tourismus hat den ethnischen Minderheiten im Norden Vietnams die Hoffnung auf Wohlstand gebracht. Doch der Preis dafür ist hoch: Ein radikaler Wandel des sozialen Gefüges und der Kultur der H'Mong. 

    Meine Wanderschuhe sind nur noch schwere, rutschige Matsch-Kugeln. Es ist nicht leicht, auf dem schmalen, matschigen Pfad, der in das Muong Hoa Tal führt, die Balance zu halten - und so rudere ich mit den Armen, als mein rechter Fuß einen Stein übersieht. Noch bevor ich mich selbst wieder fangen kann, befindet sich mein linker Arm im festen Griff einer fremden Hand.

    Ich blicke zur Seite und schaue in das Gesicht einer älteren Frau der H'Mong, einer ethnischen Minderheit im nördlichen Bergland Vietnams. Sie trägt ein buntes Tuch auf dem Kopf, einen Korb aus Bambus auf dem Rücken und schaut mich mit einem entwaffnenden Lächeln an. "Where are you from?", fragt sie mich. "Germany", antworte ich. Unsere Unterhaltung bleibt rudimentär, ihr Griff wird umso fester.

    Vor zwei Stunden sind Nina und ich mit acht weiteren Reisenden von Sa Pa im Norden Vietnams aus aufgebrochen. Zwei Tage lang wollen wir mit einem Guide - einer jüngeren H'Mong-Frau namens Sho - das Muong Hoa Tal östlich der kleinen Bergstadt erkunden. Etwa eine halbe Million H'Mong leben heute im Norden Vietnams. Sie kennen die verschlungenen Gebirgspfade, sind täglich von ihren Dörfern im Tal zum Markt in Sa Pa unterwegs. Zehn Frauen begleiten uns heute - eine helfende Hand für jeden Reisenden. 

    Hilfe gegen Konsum

    Als wir ein Dorf erreichen, umklammere ich nun statt einer Hand zwei Pferdeminiaturen aus Bambus. Meine Begleiterin hat sie unterwegs für mich gebastelt. Jetzt steht sie vor mir, ihr herzliches Lächeln ist einem mitleiderregendem Hundeblick gewichen. Mit beiden Händen hält sie mir Taschen, Silberschmuck und bunte Stoffgürtel entgegen: "I helped you, you buy from me!" Ich habe sofort ein schlechtes Gewissen, lehne aber höflich ab. Meine Begleiterin lässt nicht locker, und inzwischen haben sich noch vier andere Frauen der H'Mong dazugesellt, die mir alle ihre Produkte verkaufen wollen."Only buy from me!", rufen sie. 

    Ich fühle mich unwohl, jetzt nichts zu kaufen. Aber ich weiß auch nicht, was ich mit den Produkten anfangen sollte. "They're playing with your feelings!", sagt Javier, ein Mitreisender aus Chile, als wir endlich am Mittagstisch sitzen. Es ist, als hätte ich einen unausgesprochenen Vertrag gebrochen, der geschlossen wurde, als ich die Hand meiner Begleiterin ergriff: Hilfe gegen Konsum.

    Für die H'Mong und viele andere ethnische Minderheiten Vietnams hat sich der Tourismus in den letzten 20 Jahren zu einer wichtigen und lukrativen Einnahmequelle entwickelt: Laut einer Studie von Dinh Thu Thuy und Yos Santasombat der Chian May Universität verdiente 2012 die Hälfte aller Haushalte im Dorf Ta Phin bei Sa Pa rund vier Millionen Dong mit dem Tourismus (umgerechnet ca. 190 US-Dollar). Ein Großteil der ethnischen Minderheiten in Vietnam lebt nach wie vor unter der nationalen Armutsgrenze von 1,15 US-Dollar pro Tag - das Geschäft mit den Touristen weckt Hoffnungen auf Wohlstand, Reichtum und Geld. Die Bloggerin Natasha Amar schreibt über ihre Freiwilligenarbeit in einem Dorf der H'Mong, dass jetzt viele der jungen Mädchen dort im Ausland studieren oder kleinere Unternehmen gründen wollen. "These aspirations would be unthinkable if tourism had not brought with it the idea that there was a life outside Sapa.

    Die ethnische Minderheit als fotowürdige Rarität

    Bevor Sa Pa von der vietnamesischen Regierung zur Touristenregion erklärt wurde, lebten die H'Mong in geschlossenen Gemeinschaften mit wenig Kontakt zu anderen Vietnamesen, geschweige denn zu Ausländern. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie mit dem Anbau von Reis; Bekleidung, Schmuck und Armbänder wurden hauptsächlich für den Eigenbedarf produziert. Doch mit dem Aufkommen des ethnischen Tourismus in Vietnam Anfang der 90er wurde diese Minderheit zur fotowürdigen Rarität erklärt. Sho, unsere Führerin, erzählt stolz: "We have as many as 54 ethnic minorities in Vietnam!" Und so steigen seit Mitte der 90er die Besucherzahlen in Sa Pa stetig an: Waren es 1996 noch 9300, kamen 2011 bereits 632000 Besucher in das nördliche Bergstädtchen.

    Seitdem verändert der Tourismus den Lebensstil der H'Mong drastisch. Denn während das meiste Geld bei den großen Reiseagenturen in Hanoi bleibt, versuchen die um Sa Pa lebenden H'Mong umso radikaler, ihren Anteil am Gewinn einzufordern. Die Tourismusmanagement-Doktorandin Gian Phi sagt in einem Interview auf einem Blog: "They used to be in a really closed society, where everybody loves and cares for each other, but now it's more about competing for tourist money. Because the money came in so fast, that a lot of them don't know how to deal with it."

    Während wir weiter durch das Dorf nahe Sa Pa laufen, wird der Satz "I helped you, you buy from me!" zum Mantra der H'Mong-Frauen und zu unserer Marschmusik. "Spa"- und "Wellness"-Schilder zieren die Wände alter Holzhütten mit Wellblechdach. Fernseher und Computer sind durch die offenen Türen zu sehen, Motorbikes stehen davor. In einer "Traditional Stone-Art"-Werkstatt werden kleine Steinfiguren in Mengen angeboten, mit denen man sämtliche Dörfer im Tal versorgen könnte. Ehemalige Reislager werden zu professionellen Homestays, das Dorf zu einem Raritätenkabinett. Auf einem fernen Berg thront die Fassade eines entstehenden Luxus-Ressorts. 

    Der Tourismus verändert die Rolle der Frauen

    Die ethnischen Minderheiten um Sa Pa haben sich auf den Tourismus spezialisiert. Er hat ihnen das Versprechen vom Wohlstand gebracht, neue Arbeitsplätze und ein neues Selbstbewusstsein geschaffen. Dinh Thu Thuy und Yos Santasombat schreiben in ihrer Studie, dass viele Familien der Yao-Minderheit ihre Reisfelder inzwischen verpachten und sich gänzlich auf die Produktion von Souvenirs für Touristen eingestellt haben. Viele der Taschen und Armbänder würden nicht mehr nach den kulturellen Eigenheiten, sondern nach dem Geschmack der Touristen gestaltet - teilweise in industriellem Ausmaß. Rituale und Feste richteten sich heute mehr nach der Reisezeit der Touristen als dem religiösen Kalender, schreiben sie. 

    Der ethnische Tourismus in Sa Pa verändert das soziale Gefüge der H'Mong. Durch den steigenden Verkauf der Taschen, Gürtel, Armbänder und des Schmucks übernehmen die Frauen nun allmählich die Aufgabe der Männer: Die Versorgung der Familie. Die Bloggerin Juliette Lacharnay berichtet von einer H'Mong-Familie, in der der Mann die Feldarbeit niedergelegt und zu trinken begonnen hat, weil seine Frau inzwischen mehr Geld nach Hause bringt als er.

    Uns haben die Frauen inzwischen verlassen; sie sind nach Hause gekehrt oder zurück nach Sa Pa, um dort den neu angekommenen Touristen zu helfen. Am Rande des Dorfes passieren wir ein Gebäude, das unter den tristen Holzhütten wie ein gelber Paradiesvogel hervorsticht: die Grundschule. Sie wirkt neu, modern. Einige aus unserer Gruppe wagen einen Blick in die Klassenzimmer. Der Lehrer erklärt an der Tafel, die Schüler hören still zu. Auf die fremden Besucher an der Tür reagiert niemand. Touristen gehören zum Alltagsrauschen, selbst in der Schule, die laut Sho der Tourismus erst möglicht gemacht habe. "Every child has the chance to go to school now", sagt sie. 

    Am nächsten Morgen sind wir im Bambuswald unterwegs - ich stolpere. Um ein Haar verfehle ich eine ausgestreckte Hand. Ich blicke zur Seite: Ein junges, schüchternes Mädchen der H'Mong im schulfähigen Alter blickt mich an. "Can I help you?", fragt sie. 

    Wir waren jetzt vier Tage unterwegs - ohne W-Lan. Deshalb erscheinen jetzt zeitverzögert die letzten Beiträge über Hanoi und Sapa (Nordvietnam), während wir bereits in Hue (Zentralvietnam) sitzen.

    Unsere Reiseroute: Hanoi (11. bis 14.12.), Sapa (15. bis 18.12.), Hue (19.- ?). Wo das genau ist? Siehe: https://www.google.com/maps/d/edit?mid=zlGH96Vzl-4I.kLk-_Z9hu0po

    Übrigens nachträglich: Einen schönen dritten Advent aus Hanoi - bei 20 Grad, Eiskaffee und Sonnenschein! (Am 14. Dezember)


    Hanoier Dadaismus: Warum Hupen in Vietnam unersetzbar sind.


    Nein, Hanoier Verkehrsteilnehmer sind nicht aggressiv - sie sind höflich, gelassen und achten aufeinander. Wenn Wörter den Hanoier Verkehr beschreiben sollen, dann klingt das jedoch mehr nach einem dadaistischen Gedicht:

    Rrrrrrhmmm.
    Hup! Hup-hup!
    Rrrhh - hup - mmm.
    Blend, blink, hup. Rrrhh?
    T-k-t-k-t-k...

    Hup, blend, blink!
    Rrrrrrrhhh - krrrrt. Stop.
    Hup? Blend?
    Rrrhhm: Hup-huuup!
    Blend-blend.

    Rrrrrhhhhm.
    Blend, blend, blend.
    Hup, hup, hup.
    Blink, blink, blink.
    Rrrrhmm - hup-hup!

    Nun mag man einwenden, dass jene dadaistische Anmutung ja gerade das pure Chaos zum Ausdruck bringt, die reine Orientierungslosigkeit der Menschen im Wirr-Warr der Großstadt - so wie eine dadaistische Intention eben aussehen könnte.

    Man ist geneigt, diesem Einwand beizupflichten. Doch entpuppt sich solch eine Lesart als rein europäische, als eine, die für Berlin oder München Geltung beanspruchen dürfte. Nicht jedoch für Hanoi, wo jegliche öffentlich gezeigte Aggression dem Verlust des eigenen Gesichtes gleichkommt.

    Es handelt sich bei dem Verkehrs-Dadaismus vielmehr um eine Art multimediales Morsealphabet. Dem vietnamesischen Leser erschließt sich sofort die Bedeutung des Gedichts:

    Mit dem Motorgeräusch im ersten Vers kündigt sich der Verkehrsteilnehmer an. Es folgt die höfliche, aber bestimmende Formel "Hup! Hup-hup!" ("Entschuldigen Sie? Ich würde mich gerne neben Ihr Auto gesellen, wenn das für Sie möglich ist.") Im dritten Vers folgt das vorsichtige Herantasten - "hup" ("Dankeschön") - bis der Verkehrsteilnehmer schließlich auf der Vierten von zwei Spuren fährt. Die Signale im vierten Vers sind lediglich Floskeln ("Wie geht's denn so?", "Was machen die Kinder?" und "Was für ein Wetter heute!"), die im verkehrsalltäglichen Smalltalk üblich sind. Jedoch zeigt der Verkehrsteilnehmer in der fünften Strophe tiefere Emotionen: "T-k-t-k-t-k ..." ("Ohmann, ich muss in die Werkstatt...")

    Folgt man einer solchen, vietnamesischen Lesart des Verkehrs-Dadaismus Hanois, entpuppt sich das scheinbare Verkehrschaos als höfliche Kommunikationsform. Hupe, Blinker und Aufblendlicht als multimediales Kommumikationsorgan für die Morsesprache des Hanoier Verkehrs. Die anderen beiden Strophen machen das deutlich:

    Guten Tag, meine Herren. Wie werden Sie die Tet-Feiertage verbringen?
    Dürfte ich mich einordnen? Nein?
    Was ist denn hier los?
    Ein anderer: Eine ältere Frau mit Plastikbeutel überquert die Straße.
    Ohje, sollen wir ihr helfen? Ah, sie hat es geschafft.

    Vorsicht, ich fahre hinter Ihnen, nur etwas schneller!
    Ich würde Sie gerne überholen!
    Schön, dass Sie mich vorbeilassen!
    Danke vielmals!
    Einen schönem Tag noch.

    Diese Sprache muss derart tiefe Wurzeln haben, dass sich sogar verschiedene Dialekte entwickelt haben. Denn trotz freundlichem Hup-Ankündigen, ist am Samstag ein Auto einem stehendem hinten aufgefahren. Es hatte den Hup-Dialekt nicht verstanden oder ohne den Fahrer nicht alleine entscheiden wollen - die Gestik wurde bisher nur mangelhaft erforscht.

    Der Verkehr in Hanoi: Jeder fährt, wie und wann er mag. Für uns regelbesessene Deutsche unvorstellbar, und doch funktioniert es in der vietnamesischen Metropole irgendwie. Anders sieht es jedoch auf dem Land aus, sagt Christian Oster, deutscher Journalist, der in einer Vorstadt von Hanoi lebt. Dort gäbe es täglich Unfälle mit Todesfolge. Nicht umsonst gehört Vietnam zu den Ländern mit den meisten Verkehrstoten: Je 100.000 Einwohner kommen 24,7 Menschen in einem Verkehrsunfall zu Tode. In Deutschland sind es 4,7.

    Der Flug auf die andere Seite der Weltkugel.

    Seit einer Woche sind wir (Nina und ich) in Vietnam unterwegs. Letzten Mittwoch sind wir in Hanoi gestartet, wo wir einen Eindruck von der sich schnell wandelnden nördlichen Metropole gewinnen konnten. In diesem Stream berichten wir von unseren Eindrücken der Stadt - es folgen u.a. ein Video über das Wasserpuppentheater und ein Interview mit einem deutschen Journalisten, der seit 12 Jahren in Hanoi lebt.
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